Der Wirkungsmechanismus der Akupunkturanalgesie ist noch nicht vollständig geklärt. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass die analgetische Wirkung der Akupunktur über Modulation eines dynamischen Gleichgewichts zwischen fördernden und hemmenden Synapsen auf verschiedenen Ebenen des zentralen Nervensystems zustande kommt.
Die wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre (1976-1996) erlauben es, die folgende Hypothese aufzustellen:

Fig. 91 Akupunkturstimulation führt zu Aktionspotentialen in afferenten Nervenfasern hauptsächlich des Typs Abeta und Adelta resp. der Gruppe II und III (Muskelafferenzen) vgl. Info 5. Diese Fasern enden grösstenteils im Hinterhorn des Rückenmarks. Von dort wird die Information zu supraspinalen Zentren weitergeleitet. Fig. 81b Dies geschieht vorwiegend über die ventralen zwei Drittel des Seitenstrangs, innerhalb derer die tracti spinothalamicus lateralis und spinocerebellaris ventralis aszendieren. Anschliessend wird die Information direkt oder indirekt auf verschiedene zerebrale Kerngebiete und den Kortex verteilt Fig. 92. Wichtige Kerngebiete sind im Hirnstamm der ncl. raphe magnus, der ncl. raphe dorsalis, der locus coeruleus sowie das periaquäduktale Grau. Im Vorderhirn sind der nucleus arcuatus, der ncl. habenularis lateralis, die area praeoptica, die nuclei centromedianus, parafascicularis und centrolateralis des Thalamus, der ncl. caudatus sowie verschiedene limbische Gebiete wie das corpus amygdaloideum, der ncl. accumbens und die area septalis von Bedeutung. Das periaquäduktale Grau sowie die Raphe-Kerne bilden eine funktionelle Einheit, welche in der Vermittlung der analgetischen Wirkung der Akupunktur eine Schlüsselstellung einnimmt Fig. 93a:
Sie kanalisieren Einflüsse aus höher gelegenen Zentren und sammeln Informationen aus dem Rückenmark. Sie verarbeiten die verschiedenen Impulse und bilden den Ausgangspunkt für deszendierende Schmerzverhinderungsmechanismen.
Diese funktionieren auf ähnlicher Basis wie das endogene deszendierende antinozizeptive System, indem hauptsächlich über den funiculus dorsolateralis die Übertragung nozizeptiver Impulse im Hinterhorn des Rückenmarks gehemmt wird. Der funiculus dorsolateralis enthält neben Axonen von Nervenzellen in der genannten funktionellen Einheit aus periaquäduktalem Grau und Raphe-Kernen auch Axone hemmender Neuronen aus dem locus coeruleus. Fig. 93b Von diesem Kern gehen allerdings auch aufsteigende Nervenbahnen aus, welche die analgetische Wirkung der Akupunktur abschwächen, indem sie unter anderem über den ncl. habenularis lateralis die Entladung von Neuronen in der funktionellen Einheit, welche von den Raphe-Kernen und dem periaquäduktalen Grau gebildet wird, hemmen.
Fig. 94a Neben den deszendierenden Bahnen, welche die Übertragung nozizeptiver Informationen verhindern oder erschweren, gibt es Anhaltspunkte für die Existenz von entsprechenden aszendierenden Bahnen.
Diese beginnen in der funktionellen Einheit periaquäduktales Grau/Raphe-Kerne und werden durch Akupunkturstimulation aktiviert. Das periaquäduktale Grau/Raphe-System ist durch Axone, welche im medialen Vorderhirnbündel verlaufen, mit Kernengebieten der Basalganglien, des Thalamus, des Hypothalamus und des limbischen Systems verbunden. Viele Vorderhirnkerne sind im Sinne einer "neuronalen Schlaufe" wieder mit dem periaquäduktalen Grau/Raphe-System verbunden und üben so zusätzlich Einfluss auf deszendierende antinozizeptive Bahnen aus. Fig. 94b Direkt vom periaquäduktalen Grau/Raphe-System aus, aber auch indirekt über die erwähnten Kerngebiete, kann auf Ebene des Vorderhirns die Entladung von nozizeptiven Neuronen beispielsweise im ncl. parafascicularis oder centrolateralis thalami gehemmt werden. Von den verschiedenen Vorderhirnkernen ziehen auch inhibitorische Bahnen zu nozizeptiven Neuronen des ncl. habenularis.

Die wichtigsten bisher bekannten Neurotransmitter, die an den genannten Prozessen beteiligt sind, sind vorallem die endogenen Opioide, aber auch die Monoamine Serotonin und Noradrenalin, GABA und Azetylcholin Fig. 94c.

An dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die analgetische Wirkung der höherfrequenten, TENS-ähnlichen Akupunkturstimulation (im Bereich von mehreren hundert Hertz) über andere Strukturen und Substanzen des peripheren und zentralen Nervensystems vermittelt wird. Info 50. Die hier beschriebene Hypothese gilt, wie bereits am Anfang erwähnt, für die üblicherweise durch niedrige Stimulationsfrequenzen (im Bereich von wenigen Hertz) ausgelöste Analgesie.

Eine etwas anders gewichtete interessante Darstellung über die neuronalen Mechanismen der Akupunkturanalgesie hat der japanische Physiologe Chifuyu Takeshige zusammengestellt. Er bringt die Akupunkturanalgesie in Zusammenhang mit einem sogenannten Analgesie-Inhibitor-System Lit 121. Eine Ausführung dieser sehr komplexen Darstellung Fig. 95 würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen.